Viele konkurrierende Beweggründe sind am Werk, wenn die EU ihre Entschlossenheit steigert, die Kontrolle über die US-Internetgiganten durchzusetzen. Eines ist die Wut, dass sie ihre Marktdominanz missbrauchen. Ein anderes ist die Angst, dass sie die Stabilität der europäischen Demokratien bedrohen.
Aber wie so oft ist die stärkste Motivation das Gefühl, dass Europa im Rennen um den Aufbau einer digitalen Wirtschaft des 21. Jahrhunderts stark zurückfällt und deshalb eine bessere digitale Industriepolitik braucht. Das Gefühl ist gerechtfertigt. Die Europäer sind keine Nachzügler bei der Nutzung digitaler Technologien, aber die USA und zunehmend auch China sind führend bei der Innovation im Technologiesektor. Daher sollte die EU darauf abzielen, es ihren Tech-Innovatoren leicht zu machen, auf paneuropäische Ebene zu skalieren, ohne das Wachstum derjenigen zu ersticken, die danach kommen.
Die EU-Regulierung im Technologiebereich geht unserer Meinung nach in die richtige Richtung. Sie konzentriert sich zu Recht auf offene Technologiemärkte, Übertragbarkeit und gemeinsame Datennutzung sowie auf die Beschränkung von Kontrolleuren. All das könnte noch verstärkt werden. Aber es besteht die Gefahr, Zweck und Mittel zu verwechseln. Auch wenn die digitale Industriepolitik eine unterstützende Regulierung braucht, um erfolgreich zu sein, haben die beiden Hauptgründe, warum es EU-Tech-Unternehmen schwerer haben als ihre US-Konkurrenten, sich zu vergrößern, wenig mit dem digitalen Sektor selbst zu tun. Der eine ist fehlendes Kapital. Die Finanzierung in der EU wird immer noch von Bankkrediten dominiert, die für das unternehmerische Risiko, das mit Tech-Start-ups und deren Wachstum verbunden ist, schlecht geeignet sind. Die Märkte für risikobehaftetes Eigenkapital sind viel flacher und fragmentierter als in den USA oder sogar in Großbritannien. Zweitens sind die Märkte für Waren und vor allem für Dienstleistungen noch nicht ausreichend integriert. Ein US-Tech-Start-up, das in seinem lokalen Markt erfolgreich ist, kann fast mühelos auf kontinentale Größe skalieren. Das wiederum ist eine gute Basis, um von dort aus die Welt zu erobern.
Nicht so im aufstrebenden EU-Binnenmarkt. Zum größten Teil liegt das nicht an mangelhaften digitalen Regeln. Vielmehr erschweren es die fragmentierten „alten“ Märkte in Europa den Tech-Innovatoren, neue, billigere Wege zu schaffen, um grenzüberschreitend und in großem Umfang Musik, Finanzdienstleistungen für den Einzelhandel, Rechtsdienstleistungen oder sogar den direkten Verkauf physischer Waren anzubieten. Ein starker europäischer Tech-Sektor erfordert unserer Meinung nach Lösungen für diese beiden nicht-digitalen Probleme.
Das erste erfordert EU-weite Aktienmärkte für Unternehmen aller Größenordnungen. Das zweite lässt sich am besten durch einen einfachen Schwenk erreichen – EU-Regulierungssysteme neben bestehenden nationalen, wenn letztere schwer zu harmonisieren sind. Dies würde es mehr Unternehmen ermöglichen, ihre Dienstleistungen von Anfang an EU-weit zu verkaufen. Um den Weg für eine florierende europäische Digitalwirtschaft zu ebnen, könnten tiefere Kapitalmärkte und ein voll funktionierender Binnenmarkt unserer Meinung nach durch zwei weitere Elemente ergänzt werden:
Erstens könnte ein programmierbarer digitaler Euro eingeführt werden. Er würde Fintech-Innovatoren die Möglichkeit eröffnen, neue Dienstleistungen rund um die Ausführung von Smart Contracts und die Blockchain-Technologie zu entwickeln. Dies könnte Versicherungen, den Wertpapierhandel, das Clearing und die Abwicklung sowie eine Vielzahl von verbrauchernahen Dienstleistungen verändern, die wir uns nur ansatzweise vorstellen können. Die Unternehmen, die dies zuerst in ihrem Heimatmarkt umsetzen können, werden einen globalen Vorsprung haben.
Es gibt einen riesigen Erstanbieter-Vorteil zu ergattern.
Zweitens könnte die Nachfrage nach einheimischen Technologieprodukten, die an europäische Bedingungen und Präferenzen angepasst sind, durch Entwicklungspreise, Standardsetzung, vernünftige Subventionen und öffentliche Beschaffung angekurbelt werden. Zum Beispiel wurden die Datenschutzbestimmungen der EU weitgehend als Belastung empfunden. Dies hätte jedoch in eine Chance für europäische Tech-Firmen umgewandelt werden sollen, benutzerfreundliche Methoden des Datenschutzmanagements zu entwickeln. Unserer Meinung nach braucht Europa eine maßgeschneiderte Politik, um Tech-Vorschriften mit intelligenten Standards und Spezifikationen für Produkte zu verbinden, neben Kaufverpflichtungen des öffentlichen Sektors oder anderen finanziellen Anreizen.
Ein anderer Weg, den es zu verfolgen gilt, wären „öffentliche Optionen“ für Apps, die effektiv Marktplätze schaffen. Warum sollte man angesichts der Kontroversen um Uber nicht eine konkurrierende Mitfahrgelegenheit-App in Auftrag geben, die jede europäische Stadt freiwillig übernehmen könnte? Sie könnte so gestaltet werden, dass sie sich in die lokalen Steuer-, Arbeits- und Lizenzierungsregeln einfügt und nur so viel verlangt, dass die öffentlichen Mittel für ihre Entwicklung wieder eingespielt werden.
Ein drittes Beispiel: das Solid-Projekt des Erfinders des World Wide Web, Tim Berners-Lee, mit dem Massachusetts Institute of Technology zur Entwicklung von datenschutzfreundlichen Protokollen für das soziale Internet. Die EU sollte unserer Meinung nach darauf abzielen, ähnlich ambitionierte Projekte in Europa zu finanzieren.
Bei all diesen Herausforderungen geht es darum, die alte Wirtschaft darauf vorzubereiten, das Beste aus dem herauszuholen, was die neue Technologie bringen kann. Paradoxerweise hängt der digitale Erfolg Europas davon ab, dass es sein analoges Spiel verbessert.